Paul Bäumer (Felix Kammerer) in einer Diptychon-Aufnahme. In einem trägt er eine Uniform und einen roten Filzhut und sieht fröhlich aus. Auf anderen sieht er niedergeschlagen aus und trägt eine Uniform.

Im Westen nichts Neues

Edward Berger recreates the best-selling epic from a German perspective for the first time. 

19. Oktober 20226 MIN

Als Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque 1929 in Deutschland veröffentlicht wurde, war das Buch ein sofortiger Erfolg. Es erzählt die Geschichte des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive des jungen deutschen Soldaten Paul Bäumer, der sich zusammen mit einer Gruppe von Klassenkameraden freiwillig zum Heer meldet und schon bald mit der grausamen Realität des Stellungskriegs konfrontiert wird. Das Buch war nicht nur in Deutschland erfolgreich, es war in den USA der meistverkaufte Roman des Jahres. Eine amerikanische Verfilmung aus dem Jahr 1930 gewann den Oscar in der Kategorie „Bester Film“. 

Auch heute noch steht das Buch in vielen Schulen auf dem Lehrplan — so auch bei Edward Bergers Tochter. Der deutsche Regisseur und Drehbuchautor war wegen einer Neuverfilmung angesprochen worden und erwähnte dies gegenüber seiner Tochter. Deren Reaktion überraschte ihn.

„Als ich darüber nachdachte, entschied ich mich dazu, die Möglichkeit irgendwann mal am Esstisch zu besprechen“, sagt Berger. „Meine Tochter sagte sofort: ‚Wenn du dieses Buch verfilmen kannst, musst du es unbedingt tun!‘ Sie war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und eigentlich würde man sie nicht zur Zielgruppe für diese Art Film zählen. Aber sie hatte das Buch gerade in der Schule gelesen und war so bewegt davon, dass sie mir buchstäblich befahl, die Gelegenheit zu ergreifen. Das Werk ist ein weltberühmter deutscher Bestseller, aber die Geschichte wurde noch nie aus deutscher Sicht erzählt.“ Bergers Ansatz fand in Deutschland bereits Anklang, da sein Film als deutscher Kandidat für den Oscar in der Kategorie „Bester internationaler Film“ eingereicht wurde.

Paul Bäumer (Felix Kammerer), Regisseur Edward Berger und andere Darsteller am Set.

Als erster deutscher Regisseur und Drehbuchautor, der Im Westen nichts Neues auf den Bildschirm gebracht hat, bringt Berger (zu dessen früheren Arbeiten Jack und Deutschland 83 gehören) eine einzigartige Perspektive in den Film ein. Das Drehbuch hat er gemeinsam mit Lesley Paterson und Ian Stokell verfasst. „Es war mir wichtig, eine deutsche Perspektive einzunehmen“, so Berger. „Unser Bild vom Krieg ist geprägt von Trauer und Scham, Leid und Tod, Zerstörung und Schuld. Amerikanische oder britische Filme hingegen finden meist irgendwo eine positive Seite in ihren Geschichten.“ 

„Wenn ich im November in London mit der U-Bahn unterwegs bin“, sagt Berger, „sehe ich Leute, die Mohnblumen in Erinnerung an den Waffenstillstand tragen. Die Soldaten kamen nach dem Krieg zurück nach Hause und wurden auf dem Trafalgar Square als Helden gefeiert. Ähnliche Bilder gab es auf dem Times Square, wo sich die Leute in den Armen lagen. Amerika wurde gegen seinen Willen mit in den Krieg hineingezogen und befreite Europa vom Faschismus. Das macht etwas mit der Psyche eines Landes. Krieg wird automatisch mit Heldentum verbunden. Ich habe es als eine große und faszinierende Herausforderung empfunden, unsere deutsche Geschichte, unseren Hintergrund und unsere Einstellung zum Krieg zur treibenden Kraft hinter dem Film zu machen. Ich wollte einen Film machen, bei dem man das Gefühl hat, dass man in Deutschland aufgewachsen sein muss, um ihn machen zu können.“ 

Eine öde Kriegsszene. Ein Kameramann fängt das Geschehen vom Boden aus ein. Beide Figuren sind mit Schlamm beschmiert.

Berger und sein Team haben alles gegeben und diese Perspektive genutzt, um den Film authentisch wirken zu lassen: „Ich liebe es, jede Einstellung bis ins kleinste Detail zu planen, und ich war mit der bestmöglichen Crew gesegnet, um das zu erreichen.“ Ein wichtiges Mitglied dieses Teams ist Kameramann James Friend, mit dem Berger zuvor schon zusammengearbeitet hatte. Während der Vorproduktionsphase richtete sich das Duo in einer Hotelsuite ein. „Wir waren dem ursprünglichen Stoff gegenüber sehr respektvoll, aber natürlich wollten wir dem Ganzen auch unseren eigenen Schliff verpassen“, sagt Friend. „Im Prinzip haben wir den Film so geschnitten, wie wir es besprochen hatten. Wir zeichneten die Gräben auf große Papierbögen und überlegten, wie die Menschen sich darin bewegen sollten und wie diese Szenen gedreht werden sollten.“

Die extreme Liebe zum Detail und die gründliche Planung zogen sich auch durch den Rest der Filmproduktion. „Die Liebe, die in jedes Kostüm gesteckt wurde, der allmähliche Zerfall der Kleidung, der den Untergang der Figuren widerspiegelt, die Textur, das Make-up, der Schlamm in den Gesichtern unserer Schauspieler, um ihre innersten Ängste auszudrücken – all das ist für mich immer noch verblüffend“, erzählt Berger. „Ob es nun die Panzer sind oder die Explosionen, die in unseren Ohren widerhallen, oder vielleicht nur Vogelgezwitscher, alles ist dazu da, Paul Bäumer zu umrahmen.“

Die Rolle des Paul übernimmt der Newcomer Felix Kammerer, der die Schwere des Krieges ergreifend darstellt. „Felix hat sich mit Leib und Seele dieser Rolle verschrieben. Er trägt den Film, als wäre dieser eine schwere Sporttasche, und so spielt er ihn auch – nüchtern und unsentimental“, sagt Berger. „Mein Beitrag war, auf ihn zu schauen, auf ihn aufzupassen, ihn zu beschützen, manchmal vor der Wucht dieser Aufgabe, manchmal aber auch vor sich selbst, weil er sich der Rolle bedingungslos hingegeben hat.“ 

Regisseur Edward Berger und Besetzung und Crew mischen sich in einer Baracke. Die Darsteller tragen Camo und Berger trägt eine Daunenjacke.

Produzent Malte Grunert entdeckte Kammerer am Burgtheater in Wien und war so mitgerissen von seiner Darstellung auf der Bühne, dass er Berger den jungen Schauspieler vorschlug. „Felix stand am Set von Im Westen nichts Neues tatsächlich das allererste Mal für einen Film vor der Kamera“, erinnert sich Grunert. „Aber er hat dies[e Rolle] auf eine Art gemeistert, die ihm jede Menge Respekt eingebracht hat.“

Um sich auf die Rolle vorzubereiten, tauchte Kammerer in die entsprechende Recherche und das physische Training vollkommen ein. Es konnte ihn jedoch nichts wirklich auf diese physisch und emotional stark fordernde Erfahrung vorbereiten. „Ich habe regelmäßig Fotos von meinen Händen gemacht. Sie sahen aus wie Schmirgelpapier“, erinnert sich Kammerer. „Die Feuchtigkeit, die Bewegung, die Arbeit — du schneidest dich ständig und holst dir Kratzer. Dein Gesicht ist kaputt. Es sind immer zwischen vier und zehn Grad. Die gesamte Ausrüstung, die Waffen und die schlammverkrusteten Stiefel und das Kostüm, sobald es durchnässt und voller Schlamm war, waren deutlich schwerer, knapp 45 Kilogramm. Wenn du damit 16 Stunden am Tag herumlaufen musst, durch kniehohen Schlamm, 600 Meter in eine Richtung und 600 Meter in die andere, dann fühlst du das wirklich. Irgendwann bist du einfach verdammt müde. Du kannst nicht mehr weitermachen. Aber dann übernimmt dein Kopf und du kannst doch weitermachen. Es gibt keine andere Option. Der Dreh läuft.“

Berger erlebte einen ähnlichen Druck bei den Dreharbeiten in den Gräben: „Als ich an diesen Morgen ans Set kam, stand ich manchmal kurz vor einem Zusammenbruch. Ich machte mir solche Sorgen, dass wir die komplexen technischen Vorgänge niemals in einer einzigen Aufnahme einfangen können würden. Als dieser Drehblock endlich hinter uns lag, waren das gesamte Team und alle Schauspieler vollkommen erschöpft. Aber wir waren auch so stolz und glücklich. Wir waren erfolgreich, auch wenn wir manchmal nicht geglaubt haben, dass wir es schaffen würden.“

Zwei Darsteller gehen mit ihren Armen um den Rücken des anderen durch ein graues Feld.

Sämtliche Bemühungen gipfeln nun in einem fesselnden, ergreifenden Film. „Als ich ihn gesehen habe“, erinnert sich Friend, „habe ich mich gefühlt als wäre ich in einen Mixer gesteckt worden. Als Kameramann und Filmmacher stecke ich normalerweise nicht in den Schuhen des Publikums. Aber das ist einer der ersten Filme, an denen ich beteiligt war, bei dem ich nicht beobachtet habe, wo der Kamerafokus oder die Hintergrundbeleuchtung ist. Ich war vollkommen verschlungen von den unglaublichen schauspielerischen Leistungen, dem Drehbuch und der hervorragenden Regie.“

Im Westen nichts Neues ist ein Film, der das Publikum nicht nur durch den außergewöhnlichen Produktionsaufwand vereinnahmt, sondern auch durch die Relevanz des Inhalts. „Remarques Roman ist fast 100 Jahre alt, aber er könnte genauso gut heute geschrieben worden sein“, meint Berger. „Die Sprache, die Gewalt, die Körperlichkeit, der Esprit – all das fühlt sich sehr modern an. Leider führen uns die Nachrichten Tag für Tag vor Augen, wie aktuell dieses Buch immer noch ist. Ich fürchte, dass es leider nie sein Gewicht verlieren wird.“