Warum Edward Berger eine einzigartige Perspektive auf Im Westen nichts Neues bietet
A grey battle scene in the trenches. Men in uniforms with guns scatter.
Ein erster Blick

Im Westen nichts Neues

Der deutsche Regisseur Edward Berger stellt eine frische Neuerzählung des Klassikers vor.

Geschrieben von Madeleine Saaf Welsh
20. Juli 20224 MIN

Erich Maria Remarques fast einhundert Jahre alter und vielgerühmter Roman wird in Edward Bergers Verfilmung von Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front) wieder zum Leben erweckt. Der aus dem Jahre 1929 stammende deutsche Klassiker erzählt die Geschichte des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive des jungen Soldaten Paul Bäumer, der sich zusammen mit einer Gruppe von Klassenkameraden freiwillig zum Heer meldet und schon bald mit der grausamen Realität des Stellungskriegs konfrontiert wird.

„Der Gedanke, das Buch für die Leinwand zu adaptieren, hat mich sofort fasziniert“, sagt Berger. „Das Werk ist ein weltberühmter deutscher Bestseller, aber er wurde noch nie aus deutscher Sicht erzählt – was für eine Herausforderung und was für eine Chance!“  Als das Buch in Deutschland zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war es ein sofortiger Erfolg. Das führte dazu, dass es in den Vereinigten Staaten ins Englische übersetzt wurde, wo es zum meistverkauften Buch des Jahres 1929 im Segment Belletristik wurde. Der pazifistische Roman ging in die amerikanische Kultur ein und beeinflusste Kriegsgegner wie Bob Dylan. Die Filmadaption wurde im Jahr 1930 als bester Film mit dem Academy Award ausgezeichnet. Noch heute findet sich der Roman im Lehrplan vieler Schulen auf der ganzen Welt als Pflichtlektüre – ein Punkt, der Berger half, die Motivation zu finden, das Projekt in Angriff zu nehmen. 

 Paul Bäumer (Felix Kammerer) sits in the middle of a battlefield in full get up, covered in mud.

Paul Bäumer (Felix Kammerer)

„Als ich darüber nachdachte, entschied ich mich dazu, die Möglichkeit irgendwann mal am Esstisch zu besprechen“, sagt Berger. „Und als ich den Titel erwähnte, meinte meine Tochter, dass ich, wenn ich dieses Buch verfilmen könnte, es auch unbedingt tun müsste! Sie war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt und eigentlich würde man sie nicht zur Zielgruppe für diese Art Film zählen. Aber sie hatte das Buch gerade in der Schule gelesen und war so bewegt davon, dass sie mir buchstäblich befahl, die Gelegenheit zu ergreifen.“ 

Als erster deutscher Regisseur, der Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front)  auf den Bildschirm gebracht hat, bringt Berger (zu dessen früheren Arbeiten Jack, Deutschland 83, Patrick Melrose und Your Honor gehören) eine einzigartige Perspektive in den Film ein. Das Drehbuch hat er gemeinsam mit Lesley Paterson und Ian Stokell verfasst. „Als jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass ein Grundgedanke uns durch unser ganzes Leben begleitet: das Gefühl, das Erbe zweier Kriege in sich zu tragen. Meine Kinder bekommen dieses Gefühl auch mit“, erklärt der Regisseur. „Es war mir wichtig, eine deutsche Perspektive einzunehmen. Unser Bild vom Krieg ist geprägt von Trauer und Scham, Leid und Tod, Zerstörung und Schuld. Ich habe es als eine große und faszinierende Herausforderung empfunden, unsere Geschichte, unseren Hintergrund und unsere Einstellung zum Krieg zur treibenden Kraft hinter dem Film zu machen. Ich wollte einen Film machen, bei dem man das Gefühl hat, dass man in Deutschland aufgewachsen sein muss, um ihn machen zu können.“ 

Berger und sein Team bemühten sich nach Kräften, diese Perspektive zu nutzen, um Authentizität auf den Bildschirm zu bringen. „Ich liebe es, jede Einstellung bis ins letzte Detail zu planen, und ich hatte das Glück, die bestmögliche Crew zu haben, damit uns das gelingt. Die Liebe, die in jedes Kostüm gesteckt wurde, der allmähliche Zerfall der Kleidung, der den Untergang der Figuren widerspiegelt, die Textur, das Make-up, der Schlamm in den Gesichtern unserer Schauspieler, um ihre innersten Ängste auszudrücken – all das ist für mich immer noch verblüffend. Alles, was passiert, ist nur dazu da, um unsere Figur auf ihren Weg zu schicken. Ob es nun die Panzer sind oder die Explosionen, die in unseren Ohren widerhallen, oder vielleicht nur Vogelgezwitscher, alles ist dazu da, Paul Bäumer zu umrahmen.“

Die Rolle des Paul übernimmt der Newcomer Felix Kammerer, der die Schwere des Krieges ergreifend darstellt. „Felix hat sich mit Leib und Seele dieser Rolle verschrieben. Er trägt den Film, als wäre dieser eine schwere Sporttasche, und so spielt er ihn auch – nüchtern und unsentimental“, sagt Berger.  „Mein Beitrag war, auf ihn zu schauen, auf ihn aufzupassen, ihn zu beschützen, manchmal vor der Wucht dieser Aufgabe, manchmal aber auch vor sich selbst, weil er sich der Rolle bedingungslos hingegeben hat.“ 

 Paul Bäumer (Felix Kammerer) looks through a broken glass window.

Paul Bäumer (Felix Kammerer) & Stanislaus Katczinsky (Albrecht Schuch)

Obwohl sich der Roman um einen Krieg dreht, der mehr als ein Jahrhundert zurückliegt, sind seine Themen und Botschaften von großer Aktualität. „Remarques Roman ist fast 100 Jahre alt, aber er könnte genauso gut heute geschrieben worden sein“, meint Berger. „Seine Sprache, die Gewalt, die Körperlichkeit, der Witz – all das wirkt so modern, dass es auch von einem Autor unserer Generation hätte geschrieben werden können. Leider führen uns die Nachrichten Tag für Tag vor Augen, wie aktuell dieses Buch immer noch ist. Ich fürchte, dass es leider nie sein Gewicht verlieren wird.“

Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front) erscheint im Laufe dieses Jahres weltweit auf Netflix.